Inputpapier: Freiheit statt Festung Europa

Inputpapier für die gleichnamige Arbeitstagung in Frankfurt des Netzwerks Grüne Linke Werner Hager, 25. April 2015  Inhalt:  Individuum und Gesellschaft statt völkischem Nationalismus Die neue europäische Mauer steht in Ankara Für ein anationales statt eines transnationalen Projekt

29.04.16 –

Werner Hager, 25.04.2016 


1.
Individuum und Gesellschaft statt völkischem Nationalismus

Der freie Zusammenschluss von Individuen, die ihre Angelegenheiten selbst bestimmen ist, eine der großen Errungenschaften der Moderne. Demokratie, Republik und eben auch die Aufhebung der Leibeigenschaft unterscheiden die moderne Gesellschaft von der mittelalterlichen Gemeinschaft. Allerdings ist dieser Weg kein Automatismus. Gerade in Deutschland haben sich viele autoritäre und ständische Strukturen gehalten, die Handlungsfreiheit hat einen geringeren Stellenwert als in anderen Ländern des kapitalistischen Zentrums. Beginnend mit dem Scheitern der Bauernkriege und durch die Niederlage der 1848er Revolution blieb die liberale und republikanische Tradition immer unterentwickelt.

Dies beeinflusst auch uns Linke, die wir für eine andere Vergesellschaftung eintreten, in der der Mensch nicht Mittel, sondern Zweck ist, nicht die Produktion um der Produktion, das Wachstum um des Wachstums willen stattfindet.
Das ebenfalls in der Moderne sich bildende nationale Paradigma führt dazu, dass Menschen nicht entlang ihrer Interessen denken, linker Internationalismus oder liberaler Kosmopolitismus den Bezugsrahmen für das Bewusstsein darstellen.
Unvollständigen Individuen, die eben nicht in die Gesellschaft eingebunden sind und diese als ihr eigenes Werk begreifen, erscheint diese Welt als etwas Fremdes, sie reagieren mit Angst, projizieren diese auf ihnen Unbekannte und bilden so einen Gegensatz zwischen Innen und Außen, Volk und Ausland. Verstärkt wird dieser Effekt durch einen für sie unverständlichen Weltmarkt, auf dem sich mittlerweile eben auch Kapital und Arbeit frei bewegen. Volk und Nation scheinen ihnen Sicherheit hiervor zu versprechen.

Die Linke ist schwach geworden. Früher begrüßte sie die Internationalisierung, die mit der globalen Ausbreitung des Kapitalismus verbunden war, ohne jedoch die negativen Auswirkungen der Freisetzung der Arbeitskraft aus dem Auge zu verlieren. Eine internationale Gewerkschaftsbewegung und fortschrittliche Parteien erkämpften Mitbestimmung und Teilhabe am kapitalistischen Reichtum, politisch wurde für das allgemeine Wahlrecht gestritten.
In Zeiten gesättigter Märkte und massiver globaler Ungleichgewichte erscheint vielen diese Perspektive als zu weit entfernt. Die
kurzfristige Sicherheit des eigenen Arbeitsplatzes erscheint als realistischere Perspektive, der Kampf um Steuersenkungen einfacher als der Kampf um höhere Löhne.

Hierfür brauchen wir als Linke Antworten. Antworten, die nicht nur die alte oder neue Festung Europa ablehnen, sondern überhaupt nicht von einem Festungsweltansatz ausgehen. Aber auch keinen Idealismus, der die bekanntermaßen nicht leistungsfähigen internationalen Institutionen beschwört oder die ökonomischen Verhältnisse ausblendet.Menschen müssen wieder lernen, gegen das Kapitalverhältnis zu denken, sich zu organisieren und die Welt als ihr eigenes Werk zu begreifen.
Individuum und Gesellschaft aufzugeben und damit die nicht falsche, sondern nur unvollständige Freiheit des Liberalismus, kann nicht der Weg sein. Volk, Nation, Kommunitarismus oder eine andere Form von Identität sind vom Standpunkt der Moderne aus nicht nur ein Bekenntnis zum Bestehenden, sondern schlicht reaktionär und führen weiter in die postpolitische Gesellschaft, in der Löhne auf das Existenzminimum zusammemschrumpfen werden und jede Spur von Widerständigkeit aus den Subjekten ausgetrieben wird.

Die Globalisierung - früher hieß die weltweite Durchsetzung des Neoliberalismus einmal Neue Weltordnung - ist nicht alternativlos. Aber völkischer Nationalismus ist keine Alternative.

2.

Die neue europäische Mauer steht in Ankara

Das europäische Grenzregime bis 2014 schottete Europa vom Rest der Welt ab. Die materiell-gewaltsame Absicherung erfolgte durch Frontex. Doch bestand dieses Grenzregime nur zum Teil aus Zäunen, Grenzschutz und Küstenwache: Zwiebelschalenförmig wurde es erschwert, in die europäischen Zentrumsstaaten zu gelangen. Ein System "Sicherer
Herkunftsländer" und "Sicherer Drittstaaten" schränkte effektiv dieAusübung des Rechtes auf individuelle Asylprüfung ein. Dennoch war dieses System nicht gänzlich undurchlässig.

Dass Migration möglich war, wurde zwar widerwillig akzeptiert, aber eben nur zur Dämpfung der negativen Demographie und zum Anwerben von Facharbeiter*innen. Diese nützlichkeitsorientierte Maxime spiegelte sich in einem Brain-Drain aus den Ländern der Peripherie und insbesondere Semi-Peripherie.

Das alte System einer "Festung Europa" zerbrach, weil einige der hierfür notwendigen Institutionen nicht mehr existierten und Abkommen so nicht mehr eingehalten wurden. Es zerbrach in den Anrainerstaaten wie Lybien, deren Funktion es gewesen war, Flüchtlinge nicht bis Europa kommen zu lassen. Es zerbrach in Europa, als Länder wie Griechenland begannen, ihre Grenzen nicht mehr effektiv abzusichern.

Da sich die Europäische Union auf kein gemeinsames Vorgehen verständigen konnte, wählten die Mitgliedsstaaten unterschiedliche Umgänge mit den Flüchtlingen. Deutschland entschied sich gegen die Abschottung und proklamierte eine "Willkommenskultur".

Parallel dazu erfolgte aber die Erweiterung des Kataloges um neue Regelungen zu sicheren Dritt- und Herkunftsstaaten: Albanien, Montenegro, Kosovo, Marokko, Algerien, Tunesien und die Türkei. Ein neues Grenzregime wird gebaut, die Ziele haben sich jedoch nicht geändert, jedoch ist ein neues Mittel hinzugekommen.

Der Türkei kommt dabei eine besondere Bedeutung zu:
Geographisch stellt sie die Pforte des Nahen Ostens und Europas dar. Der Weg von Istanbul nach Athen, Paris oder Brüssel ist ein sehr kurzer.

Wird Erdogans Türkei - die noch deutlich weniger als die Türkei vor seinem Machtantritt als Garant für Menschenrechte gelten kann - als Partner zur Begrenzung der Flüchtlingsbewegung verstanden, so entledigt sich Europa seiner eigenen Standards. Jenseits dessen entwickelt sich die Türkei gerade zu einem Rekrutierungsfeld für Dschihadismus, der auch nach Europa wirkt.

Auf der Strecke bleiben wieder einmal die Kurd*innen, die eigentlich einzigen verlässlichen Verbündeten beim Kampf gegen das Kalifat.

Auf der Strecke bleibt so aber auch die Option einer menschenrechtsorientierten, säkularen, demokratischen - aber weniger
etatistischen - Erneuerung der Türkei. Durch die Unterstützung Erdogans wird gerade die Politik belohnt, die die Türkei weiter von Europa entfernt.

Das neue Politikmittel ist ein offener Vertrag mit einem zunehmend offen autoritären Regime, für Europa syrische Flüchtlinge
fernzuhalten und tatenlos dabei zuzusehen, wie Erdogan Opposition und Presse ausschaltet.

Statt die Grenzen aus Europa vorzuverlagern, brauchen wir weniger Grenzen und eine grundrechtsorientierte Außenpolitik, die effektiv gegen den Islamischen Staat und die Bedingungen vorgeht, in denen er entstehen konnte. Erst dies ist Fluchtursachenbekämpfung.

Nicht zuletzt gegenüber Präsident Erdogan muss klargestellt werden, dass Unterstützung und auch Verträge gerade im Bündnis auf Basis einer gemeinsamen Zielvorstellung erfolgen müssen. Europa muss klarstellen, dass die Unterstützung autoritärer Regime den Daesh und andere islamistische Bewegung hervorgebracht hat und hier auch die europäische
Mitschuld liegt.

Wir brauchen nicht zuerst eine Welt ohne Grenzen, sondern eine Welt, in der Grenzen die Bewegungsfreiheit der Menschen nicht mehr einschränken und in der Menschen nicht in die Grenzregime hinein getrieben werden.

3.

Für ein anationales statt eines transnationalen Projekt

Eine moderne Gesellschaft ohne Nationalismus ist möglich und wünschenswert. Nationalismus ist aber neben Institutionen auch in den Subjekten als nationale Denkform verankert. Anders als der Staat ist die Nation funktional auch nicht für den Kapitalismus notwendig und wird nicht zwangsläufig von diesem reproduziert.

Die Nation ist eine Erfindung der Moderne, eine Alternative zu ihr nicht nur möglich, sondern sogar denkbar. Eine tatsächliche Alternative ist aber keine andere gemeinschaftsbezogene Identität, sondern ein universalistisches Projekt.

Gegen das nationale Denkmuster zu denken, ist aber zu Zeiten der AfD umso notwendiger, denn diese will zurück zu Tradition, Volk und Souveranität.

Hiergegen kann intellektuell nur bestehen, wer Alternativen denken und aussprechen kann. Wir leben in einer interkulturellen Gesellschaft, einer Gesellschaft, in der viele Menschen in verschiedenen Ländern arbeiten. Einer Gesellschaft, in der jedes Gesetz ohne Berücksichtigung der Grenzgänger*innen einen Rattenschwanz von Folgekorrekturen nach sich ziehen muss. In dieser brauchen wir ein Bewusstsein für die Bedeutung von Institutionen. Wir brauchen auch ein Bewusstsein, welches weder national noch europäisch beschränkt ist, sondern grundsätzlich alle Menschen mitdenkt.

Grüne und auch Linke kommen beide aus dem Internationalismus. Bereits im Anationalen Manifest von Lanti 1924 wurde bemängelt, dass der Internationalismus immer noch im Nationalen verwurzelt sei. Dies konnte dann an zentralen Sozialdemokraten wie Jaurès, Bebel oder Lenin nachgewiesen werden, die an einem positiven Bezug zur Nation
festhielten. So wurden Nationen - nicht Staaten - als Realitäten beschrieben. Realitäten anzuerkennen, heißt aber nicht, diese zu rechtfertigen.

Auch Integration sollte in eine Weltgesellschaft erfolgen. Wer in Europa eingebürgert wird, sollte sich in ganz Europa und anderswo bewegen können.

Globales denken ist anationales Denken. Lokal handeln kann von einem anationalen Bewusstsein erst erfolgen.

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